Freitag, 13. September 2019

Die andere Seite der Medaille




 "Heute sind unser aller Probleme irgendwie existenzieller. Irgendwie greifbarer. Heute hängt wirklich Schicksal daran."

Das sind Worte aus meinem letzten Post... Ich befürchte, ich muss mich ihrer nochmal annehmen, denn sie sind irgendwie irreführend.

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Hallo zusammen. Und einen guten Start ins Wochenende!

Es stimmt zwar, dass die Schwierigkeiten, denen wir uns in dieser Phase unseres Lebens stellen müssen, im Großen & Ganzen greifbarer und vielleicht tatsächlich auch existenzieller sind... Aber dennoch sind sie dadurch nicht realer & schon garnicht schicksalhafter, als die Probleme, die viele von uns schon vor 10 Jahren hatten. 

Es ist schon wieder eine Frage von Perspektive und Fokus. In meinem letzten Beitrag lag beides auf den weltlichen, neuen Sorgen und den daraus resultierenden Chancen, die sich für mich ergeben haben. Aber das ist trotzdem nicht das ganze Bild - nicht einmal, wenn man es nur auf mein eigenes Leben bezieht.

So ziemlich alle, mit denen ich in den letzten Monaten geredet habe, haben noch eine andere Art von Problemen. Und viele haben diese schon sehr lange... "Probleme im Innern" möchte man fast sagen.

Depressionen, Angststörungen, enorme Selbstzweifel... Nur ein paar prominente Beispiele für Probleme, die im Allgemeinen nicht einfach vorüberziehen, wie ein Sturm. Probleme, die keine Chancen und Perspektiven bieten. Probleme, die viele nie wieder so ganz loswerden.

Probleme, über die es sich oft nicht so einfach reden lässt, wie über Schicksalsschläge.

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Man hat manchmal das Gefühl, in einer mental völlig kaputten Gesellschaft zu leben. Jeder hat "auf einmal" Depressionen, Borderline, Burn-Out, oder was auch immer... Aber das stimmt so nicht, denn die Gesellschaft ist schon seit Generationen so kaputt. Unsere Generation war nur einfach die erste, in der offen darüber geredet wurde. 

Bevor Borderline vor vielen Jahren in die Medien kam, waren Alkohol & Drogen die einzig "akzeptablen" Probleme der Jugend. Depressionen waren bestenfalls eine "Phase" und Angststörungen schlichtweg ein Zeichen einer unterentwickelten und schwachen Persönlichkeit. So zumindest war der allgemeine Konsens... Offen, oder hinter vorgehaltener Hand. Es war kein Thema für die Medien und wer in seinem nächsten Umfeld keine Erfahrungen damit gemacht hat, wusste nicht, wie weit verbreitet psychische Probleme sind.

Insofern sieht es heute deutlich besser aus, als noch vor 20, oder 30 Jahren. Man kann einem Freund, oder Verwandten nahelegen, dass er sich mit einer bestimmten Problematik vielleicht in Therapie begeben sollte, ohne unterschwellig zu sagen, dass er ein hoffnungsloser Fall für die Klappsmühle ist. Eigentlich so banal, dass es fast schon traurig ist... Was ist denn die Alternative?

"Oh, Dein Gehirn produziert ein bestimmtes Hormon in falschen Mengen, oder reagiert bei bestimmten Reizen über? Na dann wünschen wir Dir viel Spaß dabei, Dir für den Rest Deines Lebens täglich die Hände blutig zu waschen..."

Makaber. Aber noch vor ein oder zwei Generationen traurige Realität. Wer nicht isoliert werden wollte, der hat seine "kleinen Störungen" lieber für sich behalten... Um sich dann das Leben zu nehmen, sich tot zu saufen, oder so verbittert zu werden, dass er seinen Liebsten das Leben zur Hölle macht.

Es ist gut, dass wir heute darüber reden können.

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"Jeder von uns hat sein Päckchen zu tragen. Viele deutlich schwerer, als ich dachte." 

Diese Aussage ist aus meinem vorletzten Beitrag... und im jetzigen Kontext gleich doppelt wahr. Denn eigentlich bezog sie sich eher auf die weltlichen Probleme, mit denen sich viele von Euch rumschlagen müssen. Job, Liebe, Familie, Zukunftsperspektiven... Der ganze Erwachsenenkram. Der ganze Kram, von dem man meist irgendwann sagen kann "man wächst mit seinen Aufgaben".

Aber das ist halt nur die eine Seite der Medaille.

Die andere Seite ist die emotionale - die ganz persönliche. Mit einigen von Euch habe ich schon vor vielen, vielen Jahren über sowas gesprochen und manches wird mir erst jetzt wieder so richtig bewusst.

Geschichten und Erfahrungen... Von und über Dämonen, die hinter verschlossenen Türen lauern - an Orten, wo einem niemand helfen kann. Wo Worte nur Geräusche sind und lieb-gemeinte Ratschläge eins werden mit dem unerträglichen Krach, dem man sich ausgesetzt fühlt.

Es war als Jugendlicher manchmal befremdlich... Dieser Gedanke, jemandem einfach nicht helfen zu können... Irgendwie ist er es auch heute noch. Man wird selbst in eine Art Hilflosigkeit gerissen, weil sich ein Freund einem anvertraut hat und... man einfach nichts tun kann. Und dieser Freund wusste das vorher. Es geht gegen jede Faser meines lösungsorientierten Selbstbildes.

Erst mit eigener Erfahrung kam dann die Einsicht, dass Zuhören manchmal Hilfe ist. Dass man manchmal einfach nur das Gefühl sucht, dass jemand da ist. Einfach nur da.


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Im Schatten, fern von jedem Licht
Singt einsam es sein Lied
Ein anderes, ein dunkles Ich
Das niemals jemand sieht

Von Nächten voller Traurigkeit
Von Angst und von Verlust
Zurückweisung und Einsamkeit
Verzweiflung, Wut und Frust


Wenn dichter Nebel schwer sich legt
Und alles Licht verschlingt

Dann merke ich, wie es sich regt
Wie es nach außen dringt

Mit Mühe halt ich es versteckt
Und bleibe, wer ich bin


Und hoff' dass keiner je entdeckt


Was lauert... in mir drin


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Frage: Wie viele von Euch fühlen sich des Öfteren, oder gar regelmäßig einsam?

Schätzungen zu folge ist die Antwort darauf: „Etwas mehr, als jeder Zweite in unserem Alter“. Sozialer Stand, sowie das soziale und familiäre Umfeld spielen dabei keinerlei Rolle. Einsamkeit ist ein Notsignal des Körpers, ganz ähnlich wie Hunger. Und ebenfalls ähnlich wie beim Hunger, ist diese Notsignal-Funktion bei vielen Menschen gestört. (Ich spare mir an dieser Stelle die Ausführung, welchen Sinn dieses Notsignal in prähistorischen Zeiten hatte & warum es heutzutage eigentlich keinen Zweck mehr erfüllt…)

Es hat nicht mal zwangsläufig etwas mit dem Alleinsein zu tun. Manchmal befindet man sich im Kreise seiner Freunde, oder seiner Familie und fühlt sich trotzdem… irgendwie nicht zugehörig… irgendwie deplatziert… irgendwie einsam. Das kann die verschiedensten Ursachen haben & oft genug kennt man diese selbst nicht so genau.

So geht es auch mir schon seit einer ganzen Weile häufig.

Es kommt im Allgemeinen ganz plötzlich. Man sitzt zu Hause, schaut einen Film, trinkt dabei ein Bier und ist ganz zufrieden mit sich selbst und dem Hier & Jetzt. Doch dann fühlt man sich auf einmal komisch… Irgendwas fühlt sich falsch an. Alles eigentlich. Und ehe man sich’s versieht ist es 3 Uhr nachts und man grübelt. Auf einmal ist da diese diffuse (aber sehr intensive) Angst, dass alles, was geblieben, oder neu hinzugekommen ist, wieder verloren gehen könnte. Dass die Menschen, die noch (oder wieder) „da“ sind, einen auch bald verlassen werden & weiter ihrer Wege ziehen, ohne einen Blick zurück.

Meist versuche ich dann gar nicht erst, wieder einzuschlafen, sondern koche mir einen Kaffee und gehe anschließend zu unmöglichen Zeiten zur Arbeit (Gleitzeit sei dank ist das bei mir möglich). Die Arbeit lenkt zumindest ein bisschen ab & wenn ich Glück habe, ist das Gefühl bis zum Feierabend wieder abgeklungen.

Und wenn nicht… Naja, dann versuche ich mich anders zu beschäftigen, oder versuche, der Angst vor dem „vergessen werden“ entgegen zu wirken, indem ich virtuell Präsenz zeige. Und so ist jeder Beitrag – egal ob hier, oder auf Instagram & Facebook – irgendwie auch ein bisschen mehr…

Ein bisschen der Frage „Wer ist eigentlich noch da?“

Ein bisschen vom Angebot „Bleibt ein Weilchen & hört zu.“

Und ein bisschen der Bitte „Geht noch nicht.“

Begleitet wird das Ganze immer irgendwie von der Vorahnung, dass den Leuten meine ständige Präsenz vermutlich so langsam auf die Nerven geht und so wundert es mich tatsächlich, dass noch niemand von Euch die Option gezogen hat, mir zu sagen „Bitte hör auf, mir diese Links zu schicken“.  (Das klingt irgendwie, als würde es um einen Haufen Leute gehen, dabei ist die Rede hier aber „nur“ von 9 Menschen…)

Ich weiß nicht…. Vermutlich ist das keine gute Art, um mit all dem umzugehen. Es wird sich wohl zeigen. Ich lerne noch.

Jedenfalls ist das die andere Seite meiner Medaille. Die Schattenseite der positiven Veränderungen und Chancen, die mein neues Leben mit sich gebracht hat. Die Seite, die man nicht so gerne präsentiert. Denn obwohl ich schon das eine oder andere Mal darüber geredet habe, fiel es mir nicht sonderlich leicht, hier jetzt darüber zu schreiben… Aber vielleicht hilft es ja.


~ ~ ~
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Und wieder sitzen wir zusammen - getrennt durch Jahre und Meilen. Durch Welten und Leben. 

Und dennoch... zusammen.

Jeder von uns: gebrochen, defekt, gezeichnet... und gleichzeitig gehärtet & gewachsen an den Hürden, die er überwunden hat. Den Gräben, den Schluchten, den Sackgassen. Wir haben es bis hierher geschafft. Nichts konnte uns aufhalten. 

Wo Lücken blieben, da komplementierten wir uns. Wo das Ich zu kaputt war, fanden wir Gänze im Wir.

Und doch bleibt es eine Flucht. Eine Flucht vor den Dämonen, die ständig lauern - auf ihre nächste Chance. Wenn wir uns ausruhen, verschnaufen, unsere Siege feiern. Dann sind sie da, so wie schon all die Male zuvor... Und fordern ihren Tribut, ihre Opfer, ihren Zoll.

Was für Wege wir alle schon zurück gelegt haben... So unglaublich viele Schritte. Tausende, Zehntausende, Abermillionen. So viele, dass wir uns an die aller, aller meisten nicht mehr erinnern können. So wie auch an die meisten Hürden und Sehenswürdigkeiten auf unserem Weg. Alles verfliegt und verschwimmt in der Unschärfe der endlosen Bewegung. Vorwärts, aufwärts, abwärts... Auf dem Weg. Auf der Flucht.

Und wir greifen zu und halten uns fest. An all den Momenten, die viel zu schnell vorbei gehen & irgendwann doch vergessen werden. Die besonders hellen & die besonders bunten... Vielleicht können wir wenigstens ein paar von ihnen wirklich halten und sie mitnehmen. Damit sie ein bisschen Wärme spenden auf unserem langen Weg, während sie in Würde und Liebe verblassen.

Von den meisten jedoch müssen wir uns lösen... Müssen sie am Wegesrand zurücklassen - als Tribut, als Opfer, als Zoll für unsere Dämonen. Es tut weh, doch so, wie von ihnen, müssen wir uns auch von Freunden und Gefährten trennen. Von Teilen unseres Glücks. Von Teilen von uns selbst.

Unser Weg ist lang und weit... verworren und verwirrend... traurig, fröhlich und alles dazwischen. Jeder Abschnitt, jede Gabelung und jeder Etappensieg hat seinen Preis. Wir lassen viel zurück, in der Hoffnung, dass es sich am Ende irgendwie lohnt. In der Hoffnung, dass am Ende mehr bleibt, als nur Reue über die vielen Momente, Stimmen & Gesichter, die wir hinter uns lassen mussten - die wir vergessen haben.

Denn auch wenn das letzte Hemd keine Taschen hat: Manches kann uns niemand nehmen. Nicht unsere Dämonen, nicht die Hürden des Lebens und auch nicht die Steine, die wir uns selbst manchmal in den Weg legen... Zumindest hoffen wir das.

Und während das letzte Licht dieses umkämpften Tages verlischt und wir uns ausruhen, von den Strapazen einer weiteren Etappe unseres Weges, schauen wir nach oben. Alle gemeinsam. Sehen das gleiche Abendrot. Getrennt durch Jahre und Meilen - durch Welten und Leben. Jeder für sich: gebrochen, defekt, gezeichnet. Doch gemeinsam... irgendwie ganz.

Und in der Ferne singt eine dicke Frau.

Die Overtüre.

Zum nächsten Akt.


~ ~ ~
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Heute nur ein Gedicht, dafür mit etwas Pathos zum Abschluss. Der Herbst hält auch hier langsam Einzug, bitte seht es mir nach.

Also dann: Macht's gut, liebe Freunde. Passt auf Euch auf, vergesst mich nicht...


... und vielleicht bis bald.

Micha


 
P.S.: Wir haben es verpasst! Den runden Geburtstag... Denn vor ziemlich genau einem Monat wurde dieser Blog hier 10 Jahre alt. Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass ich ihn gestartet habe, als ich begann, die ersten von Euch aus den Augen zu verlieren. Wo ist bloß all die Zeit geblieben...

In diesem Sinne: Prost, meine Freunde! Auf Euch & uns & all die ganzen Jahre.