Freitag, 24. Januar 2025

Voyage, Voyage

 

Vorvergangene Woche ist meine Nachbarin verstorben. Eine Frau, mit der ich seit 6 Jahren direkt Tür an Tür gelebt habe. Wir haben uns freundlich gegrüßt, man hat sich gegenseitig die Tür aufgehalten, aber wir haben nie geredet.

Als es passierte habe ich lediglich die Hektik auf unserem Flur bemerkt und dass Rettungswagen, Notarzt und Polizei stundenlang vor dem Haus standen. Heute hat mir mein Nachbar von Gegenüber dann erzählt, was geschehen ist, weil er einen der Rettungssanitäter kennt: Meiner Nachbarin wurde an jenem Abend plötzlich schlecht und schwindelig - sie schaffte es gerade noch, ihren Enkel anzurufen. Als dieser eintraf, lag sie bereits bewusstlos auf dem Fußboden ihrer Wohnung. Die Rettungskräfte, die etwas später dazukamen, erklärten sie noch vor Ort für tot. 

Sie war 57. Ihren Namen kannte ich nicht.

 

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Ich spiele schon seit langer Zeit mit dem Gedanken, meinen Job zu kündigen. Wobei... eigentlich stimmt diese Formulierung nicht - ich ringe vielmehr mit mir selbst. Es ist nicht so, dass ich die Arbeit für unerträglich halte, oder zu erschöpft bin, um weiter zu machen... Vielmehr wird die Luft einfach langsam zu stickig in dieser kleinen Welt. Mit jedem Augenblick verschwimmen Dinge, die man vor kurzem noch klar zu sehen glaubte. Nach jedem Wimpernschlag nehmen die formlosen Schatten in meinen Augenwinkeln ein wenig mehr Gestalt an. In jeder Sekunde vergehen Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre und... und...

Und mit diesen Gedanken im Hinterkopf mache ich einfach weiter, wie bisher. Geld sammelt sich auf meinem Konto, ohne dass ich irgendetwas (fundamental) sinnvolles damit anzufangen wüsste - zu viel, um es nicht zu schätzen zu wissen, aber zu wenig, um in absehbarer Zeit einen (fundamentalen) Unterschied zu machen.

Seit gefühlten - und wohl auch gelebten - Jahrzehnten rede ich von Spuren, die man hinterlässt. In den Leben anderer und vielleicht auch in ihren Herzen. Aber wenn ich auf die letzten Jahre zurückblicke, sehe ich davon nur noch sehr wenig. Die Spuren sind bestenfalls noch sehr sporadisch erkennbar und auch nicht sonderlich tief. 

Was wäre, wenn ich morgen hier auf dem Fußboden liege? Wer würde das überhaupt noch mitbekommen? "Lebe für den Moment" ist die Prämisse, der man wohl eigentlich folgen sollte - das weiß ich so gut, wie jeder andere auch. Aber ich war nie besonders gut darin. Ich hatte schon immer eine ungesunde Obsession wenn es darum ging, ob sich andere wohl an mich erinnern würden. Ist das eine selbstherrliche Art zu denken? Schon möglich...

In this world or the next...

In jedem Fall waren das Schreiben und die Musik immer ein nützlicher Knebel für die imaginären Stimmen, die ständig die Fragen aus dem letzten Absatz in meine Gedanken gebrüllt haben. Schließlich habe ich ja mit jedem Song auf Youtube und jedem Post in meinem Blog kleine Zeitkapseln in den Weiten des Internets (das ja bekanntlich niemals vergisst) hinterlassen - für jene, die sich vielleicht erinnern möchten. Und jetzt, wo ich immer weniger Zeit für soetwas finde (oder schaffe), merke ich, wie sehr ich diesen Knebel tatsächlich brauche.

Es fühlt sich irgendwie an, wie die Definition des "Main Character Syndrome"... Warum befasse ich mich mit der Frage, wie andere sich irgendwann an mich erinnern werden? Menschen, die mich womöglich bereits vergessen haben. Einfach weil man nicht wahrhaben will, wie wenig Gedanken andere tatsächlich an uns verschwenden...? Oder?

 

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Komm in mein Boot...

Jetzt, wo sie niedergeschrieben sind, wirken all diese Gedanken fast wie ein Fiebertraum. Wer weiß schon, woher dieser Drang kommt und was dahinter steckt? Vielleicht geht es am Ende auch einfach nur um den Wunsch, sich mitzuteilen, während der tatsächliche Kontakt mit den Menschen, die einem einst wichtig waren, immer seltener wird.

Vielleicht hat es damit zu tun, dass sich alles nie wieder so bedeutend angefühlt hat, wie an diesem einen, undefinierten Sommerabend mit 16, oder 17. Als man gemeinsam an einem namenlosen See saß und sich zweifelsfrei darüber einig war, worauf es in diesem Leben ankommt... So verzerrt die Laute auch gewesen sein mögen, die die eigene Zunge - geschwächt vom Alkohol - in diesem Moment geformt hat: Sie waren die Wahrheit. Eine Wahrheit so fundamental und unumstößlich, wie sie es nie wieder sein würde.

Oder vielleicht ist das auch alles Unsinn und Schreiben & Musik sind einfach noch immer die Dinge, denen ich meine Zeit widmen will. Die Pläne, die ich vor bestimmt 20 Jahren für "den letzten Abschnitt meines Lebens" geschmiedet habe, haben vielleicht noch immer Bestand... Einfach irgendwann verschwinden. An einen Ort, wo mich tatsächlich niemand kennt. Und nur das zurücklassen, was von diesem Leben hier übrig bleiben soll. Als Zeitkapseln. Als Erinnerungen.

... und vielleicht muss ich mir einfach nur die Zeit nehmen, um noch ein paar Zeitkapseln zu erschaffen.

 

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Macht's gut liebe Freunde... und vielleicht bis bald.

Micha