Grüße!
Ich muss mich entschuldigen. Zum einen, weil ich mich so lange in Stille gehüllt habe & zum anderen, weil ich meinen Blog jetzt für etwas anderes gebrauchen muss, als für das, wofür er eigentlich gedacht war. Ich hatte den Drang, etwas zu schreiben & ich sah mich in der Pflicht, meinen Freunden und Seelenverwandten Bericht zu erstatten. Diesmal ließ sich jedoch das eine nicht mit dem anderen verbinden, denn ich musste mal wieder etwas anderes schreiben. Ich hoffe, ihr gebt dem Text trotz seiner Länge eine Chance & erwarte gespannt eure Kommentare:
Antropophob
(Eine Kurzgeschichte)
(Eine Kurzgeschichte)
Er saß auf einer uralten Bank in der kleinen Baptistenkirche von Nordheim. Seine nikotingelben Finger strichen über die einst goldenen Lettern eines angestaubten Gesangsbuches. Als die Schritte von Richard, dem Hausmeister, die sakrale Stille brachen, erwachte auch er aus seiner grüblerischen Lethargie.
„Hallo, Anton“ echote es durch den Raum. „Ich hab Sie schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Geht es Ihrer Mutter wieder besser?“
„Ja, danke Richard“ Die Antwort war mehr Krächzen als Sprechen, aber der Hausmeister war ohnehin einer der ganz wenigen Menschen, mit denen Anton Neumann überhaupt sprach. „Sie muss schon nicht mehr das Bett hüten.“
„Das freut mich, Anton. Nach allem, was ich gehört habe, grenzt das ja an ein Wunder.“
„Ja… sieht ganz so aus.“
In Nordheim gab es schon seit mindestens fünfzehn Jahren keine nennenswerte baptistische Gemeinde mehr. Die meisten ehemaligen Mitglieder waren konvertiert oder einfach ausgetreten. Offiziell belief sich ihre Zahl noch auf ungefähr zwei Dutzend, von denen sich jedoch kaum die Hälfte noch regelmäßig in der Kirche sehen ließen. Anton war weder Baptist, noch gehörte er sonst einer Konfession an. Der Gedanke an einen allmächtigen und allgegenwärtigen Gott erfüllte ihn mit Unbehagen.
„Der Tag, an dem ich einem jähzornigen Stalker huldige, muss erst noch gebaut werden“, dachte er oft. Dass er hier her kam, hatte keinerlei religiöse Gründe. Er mochte die Stille. Er mochte den großen leeren Raum und dabei kam ihm zugute, dass angesichts der winzigen Gemeinde und abgesehen vom Hausmeister, nur sehr selten jemand anderes hier war.
Als er acht Jahre alt war, nahm ihn sein Vater an einem Sonntag, wie so oft, mit zu einem Fussballspiel ins Nordheimer Stadion. Es war September, aber immer noch angenehm warm und das bescheidene Stadion war mit etwa 800 Besuchern gut gefüllt. Die zweite Halbzeit dauerte noch nicht allzu lange und es stand, zu Antons großer Freude, 2:0 für die Nordheimer Spielvereinigung, als eine kleine Gruppe junger Männer aufstand und begann, feindselige Parolen zu skandieren. Es handelte sich um ein Paar der wenigen Fans, die mit der Gastmannschaft angereist waren und ihrem gejohle nach zu urteilen waren sie alles andere als nüchtern. Keiner kümmerte sich allzu sehr um die jungen Männer, denn Menschen, die besoffen Krawall machen, sind in Kleinstadtstadien keine Seltenheit. Auch Anton hatte keinerlei Angst und beobachtete interessiert die Szene. Er sah, wie einer der Jugendlichen in seiner Hosentasche kramte und einen kleinen Gegenstand herausholte. Als er die Flamme des Feuerzeugs sah, wurde Anton nervös und begann am Hemd seines Vaters zu zupfen. Doch noch bevor dieser reagierte, flog die kleine Kugel schon in ihre Richtung. Bestialischer Gestank breitete sich in einer dunklen Wolke unter den Zuschauern aus. Zwei weitere Stinkbomben explodierten kaum fünf Meter entfernt von Anton. Menschen stoben in Panik auseinander und versuchten Mund und Nase mit ihren T-Shirts oder den bloßen Händen zu bedecken. Einige erbrachen sich. Eine Frau fiel in Ohnmacht, stieß mit dem Kopf gegen ein Metallgeländer und blieb mit einer klaffenden Wunde an der linken Schläfe besinnungslos liegen.
Auch Anton und sein Vater ergriffen die Flucht, als die Woge panischer Leiber auf sie zugerollt kam. Anton lief dicht hinter seinem Vater, aber immer wieder drehte er sich in vollem Lauf um und schaute furchtsam auf die große, graue Rauchwolke und die Menschen, die vor ihr flohen. Deshalb sah er die ohnmächtige Frau mit dem blutigen Kopf nicht, über die sein Vater gerade hinweggerannt war. Anton stolperte und fiel. Er wäre mit Sicherheit überrannt worden, hätte sein Vater den Sturz nicht bemerkt und blitzschnell reagiert. Er wirbelte herum, riss seinen Sohn hoch, wandte sich wieder zur Fluchtrichtung und setzte Anton vor seinen Füßen ab. Die Dankbarkeit hatte keine Zeit sich auf Antons Gesicht zu zeigen und seine Augen schienen die Größe von Tennisbällen anzunehmen, als er über die Schulter seines Vaters den fluchenden Fleischberg von einem Mann sah, der auf die beiden zugerannt kam. Sein Vater sah ihn nicht mehr. Der Koloss stieß ihn aus dem schmalen Gang über die Lehnen der unteren Sitzreihe. Er stürzte zwei Reihen tiefer auf den harten Betonboden des Ganges. Anton wurde ebenfalls zur Seite geschleudert, doch durch einen Zufall, der ihm vielleicht das Leben rettete, landete er auf zwei Sitzen und somit nicht auf dem Fluchtweg der verängstigten Menschen. Vor Schmerz und Angst schreiend suchte er mit rastlosen Augen nach seinem Vater, doch als er endlich das vertraute Hemd erblickte, war es keine Freude, die seine Gesichtszüge veränderte. Der Körper seines geliebten Vaters wurde überrollt von einer Welle aus Schuhen, Beinen und Körpern. Als Anton wenige Augenblicke später wieder freie Sicht hatte, schienen alle seine Sinne bei dem entsetzlichen Anblick zu kapitulieren. Der verrenkte und offenbar mehrfach gebrochene rechte Arm seines Vaters. Der unnatürlich verdrehte Kopf in der wachsenden Blutlache. Anton wurde schwarz vor Augen und er erwachte erst zwanzig Minuten später auf dem trockenen Rasen des Spielfeldes.
Seit dem mied er jede Ansammlung von Menschen. Er wollte nicht mehr auf den Spielplatz gegenüber oder ins Kino. Er ging nur widerwillig und später sogar nur unter Zwang zur Schule. In ihrer Verzweiflung brachte Antons Mutter ihn zu einem Psychologen, der ihr von einer Nachbarin empfohlen wurde und auf Kinder spezialisiert war. Nach einem relativ kurzen Gespräch, das ohne die Erwähnung des grausamen Todes von Antons Vater ablief, lautete die Diagnose des Spezialisten: „Antropophob“. Menschenscheu.
Anton verließ die Kirche am späten Nachmittag. Er hatte einen guten Tag erwischt, denn es war selten, dass sich sogar der Priester derartig lange nicht blicken ließ. Die Hauptstraße wie immer meidend, machte er sich auf den Heimweg. Sein Gang war schleichend und langsam und sein Blick ruhelos. Das kindheitliche Trauma hatte ihm schwer zugesetzt und kaum ein Bereich seines Lebens war von den Einschränkungen, die die Phobie mit sich brachte verschont geblieben. Er überquerte die Luxemburg-Allee und als er das alte Heimatkundemuseum zu seiner Rechten sah, hellte sich sein Blick urplötzlich auf. Dies war der Ort, der ihm oft Unterschlupf bot, wenn er in der Baptistenkirche nicht ungestört sein konnte. Sofern nicht gerade Schulklassen auf Exkursionen anwesend waren, verbrachte er viel Zeit in dem Ausstellungsraum, der sich mit der örtlichen Tierwelt befasste. Denn der Geruch und der Anblick der ausgestopften Tiere erinnerten ihn an seinen Großvater und kaum etwas wirkte beruhigender auf seine gequälten Nerven.
Großvater Neumann war seiner Zeit Förster, veranstaltete Jagden und verdiente sich ein ansehnliches Zubrot als Tierpräparator für die trophäengierigen Jäger. Außerdem war er neben Antons Mutter der einzige, dem Anton nach dem Tod seines Vaters vertraute und dessen Nähe er suchte. Die Zeit, die Anton bei seinem Großvater verbrachte überwiegte schnell gegenüber der, in der er die verhasste Schule besuchte. Schon als Kind liebte er die wilden Geschichten von der Jagd und von den todesmutigen Kämpfen mit den Ungeheuern, die damals in den Wäldern um Nordheim gelebt haben sollen. Natürlich war es jedermann bekannt, dass es schon Jahrzehnte vor der Zeit, als der Großvater zum Nordheimer Forstbeamten wurde, keine Bären mehr in den hiesigen Wäldern gab, aber was ist schon eine Lüge, wenn der Lohn dafür die strahlenden Augen des eigenen Enkels sind?
Als Anton älter wurde, schaute er seinem Opa immer häufiger bei seiner Arbeit als Tierpräparator über die Schulter. Er liebte die Ruhe und Abgeschiedenheit, in der Menschen dieses Berufsstandes arbeiteten und half, sooft es ihm erlaubt wurde. Er war gerade erst sechzehn geworden, als ihm der Krebs auch diese Bezugsperson raubte. Die folgen dieses Verlustes waren fatal. Er ertrug, abgesehen von seiner Mutter, so gut wie keine menschliche Nähe mehr. Als die Tochter einer Nachbarin ihm an seinem siebzehnten Geburtstag einen Kuss geben wollte, schlug er ihr in seiner Panik zwei Zähne aus. Sein Weg zum menschlichen Schatten war geebnet.
Anton war nun fast zu Hause angekommen. Er freute sich auf seine Mutter und auf die Ruhe und Sicherheit, die ihm schon seit Jahren nur noch ihr gemeinsames Heim bieten konnte. In all den Jahren hatte er es mit vielen Berufen versucht, denn er wollte trotz seiner Phobie anständig für seine Mutter, den einzigen Menschen, der ihm etwas bedeutete, sorgen können. Doch seine Bemühungen waren leider nie von Erfolg gekrönt. Einmal waren es seine Ängste, ein andern mal seine fehlende Qualifikation, die ihn immer wieder scheitern ließen. Als jedoch bei seiner Mutter erste Anzeichen einer Demenz festgestellt wurden, sorgte er dafür, dass er mit ihrer Pflege betraut wurde und war somit vom Arbeitsmarkt entfernt. Anton kümmerte sich rührend um sie aber konnte den Fortschritt der Krankheit nicht verhindern, die mit ihren erbarmungslosen Krallen nach seiner Mutter griff. Wutanfälle folgten auf völlige Lethargie und auf plötzliche Gedächtnislücken folgten Weinkrämpfe. Doch so stark Antons Abneigung gegen alle anderen Menschen war, so stark war auch die Bindung zu seiner Mutter. Er ertrug all das Geschrei, das Gefluche, das Gewinsle und Geheule und wich keinen Schritt von ihrer Seite.
Heute war Anton besonders guter Laune, als er die Wohnungstür aufschloss, denn der Zustand seiner Mutter hatte sich deutlich gebessert. Sie war, wie er Richard dem Hausmeister bereits erzählt hatte, nicht mehr ans Bett gefesselt und dass, obwohl die Ärzte sie schon vor Wochen aufgegeben hatten. Auch zeigte sie keine Anzeichen irgendwelcher Anfälle mehr. Nachdem er in die Wohnung getreten war, entledigte Anton sich behäbig seiner Jacke und begrüßte seine Mutter anschließend liebevoll. Sie saß noch immer in ihrem Sessel, wie zu dem Zeitpunkt, als er an diesem Morgen das Haus verlassen hatte. Anton nahm das Wasserglas aus ihren spindeldürren Fingern und trug es in die Küche. Er hatte gesehen, dass eine tote Fliege in dem Glas schwamm und nachdem er seiner Mutter frisches Wasser gegeben hatte, setzte er sich auf das alte Sofa und sah fern. Gegen neun Uhr ging Anton ins Bett, nachdem er seiner Mutter, die offenbar noch etwas länger aufbleiben wollte, eine gute Nacht gewünschte hatte. Er schlief sehr ruhig und träumte von uralten Ruinen, von längst vergessenen Kulturen und Rassen, denen die Zeit ihre Sprache geraubt hatte und an deren ewiger Stille er sich jetzt labte.
Als er am nächsten Morgen aus dem Bad kam, fand er seine Mutter an ihrem angestammten Platz und war glücklich darüber. Routiniert kippte er das alte Wasser aus ihrem Glas in die Spüle und ersetzte es durch frisches. Es bekümmerte ihn nicht, dass sie in letzter Zeit so wenig trank… oder aß…
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