Sonntag, 27. Oktober 2019

Fast ein Jahr


Der November steht vor der Tür. In etwas mehr als einem Monat jährt sich somit der Tag, an dem ich hier gestrandet bin zum ersten Mal. Fast schon ein ganzes Jahr - und so sehr sich manche Tage & Wochen auch in die Länge gezogen haben, so sehr wundere ich mich, wie schnell es vergangen ist. Ich kann nicht anders, als mich an dieser Stelle (mal wieder) selbst zu hinterfragen. Was hat sich verändert?

"Alles und nichts", könnte man sagen. Nachdem ich (mit viel Hilfe) dem Loch, in das ich gestürzt war, entkommen bin, habe ich mir viel Zeit für mich selbst genommen. Zeit, um die Situation zu akzeptieren und mit den eigenen Schwächen ins Reine zu kommen. Und mit den Spuren, die all die Veränderungen an mir hinterlassen haben. Selbstheilung um jeden Preis.

Was das angeht war ich recht erfolgreich, würde ich sagen. Ich habe mit dem Teil meiner Vergangenheit abgeschlossen und sehne mich nicht mehr zurück. Die Zeit, in der ich es fast schon aktiv vermieden habe, mich auf die Gegenwart einzulassen - aus Angst, mich weiter von meinem früheren Leben zu entfernen - wirkt rückblickend fast schon unwirklich. Ich bin jetzt & ich bin hier... und das ist in Ordnung. Die alten Dämonen sind fort, haben aber bei ihrer Abreise die Tür offen gelassen für neue, wie das - oft trügerische - Gefühl der Einsamkeit. Allerdings ist das wohl ganz normal, befürchte ich. Das Leben zieht nicht ohne Spuren an uns vorüber und manche Dinge brauchen einfach Zeit... Wir können sie nicht aktiv ändern, sonder nur lernen, mit ihnen zu leben & hoffen, dass sie irgendwann aus unserem Blickfeld verschwinden.

Jedoch frage ich mich mittlerweile immer häufiger, wie lange ich den Blick - mit der "Ausrede" der Selbstheilung - noch stur auf das hier & jetzt richten kann, während ich vehement ignoriere, was vor mir liegt.

Denn das ist der Punkt, an dem ich eingestehen muss, dass sich nichts verändert hat. Betrachtet man mein Leben an sich, ist alles noch genauso, wie vor fast einem Jahr. Allgemeine Lebensumstände, Wohnsituation, Job... all das, wo Veränderungen dringend nötig sind, liegt weiterhin brach vor mir und ich habe - wenn ich ehrlich bin - noch immer keine Idee, wie die Veränderungen aussehen sollten. Geschweige denn, wie ich sie angehe...

Wenn ich daran denke, befällt mich wieder ein altbekanntes Gefühl. Das der Leere.

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Die Leere.

Sie ist wie ein Ort, an dem man sich plötzlich wiederfindet. Wie ein kleines Zimmer, in dem man im Halbdunkel umher irrt und die Wände abtastet. Die Hände treffen auf Regale, deren freie Fächer einen in den Wahnsinn treiben, weil man sie nicht zu füllen weiß. Oder weil das, was man hineinstellt, ständig aufs Neue zu verschwinden scheint. All das Gute, all das Schöne - alles, was man der Welt gern zeigen möchte, verblasst sobald der Blick zu lange abgewendet wird & verschwindet im toxischen Nebel unserer ständigen Unzufriedenheit.

Sie ist, wie das Gefühl plötzlich keine Luft mehr zu bekommen. Oder wie einer dieser Träume, in denen man versucht zu schreien, aber kein Ton rauskommt.

Eine Trifecta aus Unzufriedenheit, Ungewissheit und Hilflosigkeit. Die Angst davor, dass das vielleicht schon alles war.

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Es gehört viel dazu, die großen Dinge anzugehen, die das eigene Leben (womöglich) zufriedenstellender machen. Man entscheidet sich nicht in einem freien Moment in der Bahn für große Veränderungen, oder einen neuen Weg. Oder doch? Zumeist nicht, glaube ich. Meist erfordern diese Entscheidungen viel Aufmerksamkeit, Fokus und Mut.

Aufmerksamkeit, die bei mir aktuell zu 100% darauf liegt, die Gegenwart lebenswert zu machen. Fokus, den ich auf die schönen - aber vergänglichen - Momente im jetzt lege. Und Mut, den ich aufbringe, um mir in genau diesen Momenten zu erlauben, einfach zufrieden zu sein - um ihre Vergänglichkeit zu ignorieren... und meine weiterhin ungewisse Zukunft.

Ich fühle mich irgendwie noch nicht im Stande dazu, mich den großen Fragen zu stellen, die letztendlich darüber entscheiden werden, wie mein Weg weitergeht. Schon die Ausgangssituation ist irgendwie unklar... Bin ich erst 33, oder schon?
Aber es wird auch nicht wirklich besser, wenn man ins Detail geht. Ich habe noch keine Kinder - will ich überhaupt noch welche? Wie viel "Karriere" ist notwendig, bis ich sagen kann, dass es zum Leben - so wie ich es mir vorstelle - genug ist? Und sind meine Vorstellungen immernoch die gleichen? Die Antworten bleibe ich mir selbst momentan noch schuldig.

Ich bin mir sicher, dass der Spagat möglich ist... Im Leben vorwärts zu kommen, ohne dass man vergisst, auch zu leben. Aber im Moment wirkt es wie eine Aufgabe, an der man wachsen muss, um ihr dann auch gewachsen zu sein. Und so bleibt meine ungewisse Zukunft ein Schandfleck, der mich wohl noch in das nächste Jahr meines "neuen Lebens" begleiten wird.


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Ich stand vor mir und sah mich an
Die Zeit schien still zu steh'n
Ich holte Luft und fragte dann
"Wie soll es weitergeh'n?"

"Was stellst Du an, mit Deiner Zeit?
Ist es das alles wert?
Was hält Dein Weg für Dich bereit?
Ist er schon längst versperrt?"

"Du hast verloren, hast versagt.
Ist Besserung in Sicht?
Was wirst Du tun?"
hab ich gefragt.

"Ich lebe", sagte ich.


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Ja, der Schandfleck bleibt. Aber dennoch habe ich das Gefühl, mein Leben wieder zurück zu haben. Es ist zwar allzu oft schlimmer, als mir lieb ist, aber - ganz allgemein - besser, als ich es vor 11 Monaten erwartet habe.

Die schönen Momente waren nicht unglaublich zahlreich, aber dafür viel realer, als früher. Die ständige Ungewissheit zwingt mich quasi dazu, sie intensiver zu erleben und zu genießen, als in der Vergangenheit. Denn man weiß nie, wann (und ob) es das nächste mal so schön - so lebenswert - ist.

Und so mache ich wohl vorerst so weiter... Investiere meine Zeit in Momente, die es wert sind, gelebt zu werden & die morgen schon nur noch schöne Erinnerungen sind. Ich garniere meine Vergangenheit mit Bildern, Gesprächen, Telefonaten, Chats & dem Gefühl von Gemeinsamkeit, während die ungewisse Zukunft weiterhin lauert & mich stetig daran erinnert, dass es auch eine Zeit nach all den schönen Momenten gibt.

Es sind eben allzu oft nur Momente - nur Augenblicke. Und sie sind immer viel zu kurz. Aber sie sind es, auf die es ankommt, wenn man sich irgendwann die Frage stellt: "Habe ich gelebt?"

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Was ist also nun das Fazit von diesem Rückblick?

Das (fast) vergangene Jahr brachte mir einige Erlebnisse, Situationen & Gespräche, die ich nicht missen möchte & bei denen sich der Gedanke aufdrängt, dass es gut war, was mir passiert ist. Momente, die ich ganz bewusst erlebt habe und die mich in dunkleren Zeiten hoffentlich noch lange daran erinnern, dass es ja nicht immer regnen kann.

Es hatte aber natürlich auch seine Rückschläge. Ich habe Fehler gemacht, die ich bereue und meine andauernde Untätigkeit, was die Zukunft angeht, ist einer davon.

Noch zehre ich irgendwie vom "Früher" und schaffe weiterhin neue Erinnerungen mit "alten" Gesichtern (nur eine Redewendung!). Es ist schön und ich genieße es... aber es kann nicht ewig so weitergehen. Auch das weiß ich.

Unterm Strich waren die vergangenen elf Monate wohl einfach... ganz normales Leben. Mit Höhepunkten und Rückschlägen. Mit Optimismus und Zweifel. Mit Fortschritt und Stillstand.

Ein Leben, wie andere auch.

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Das war es dann auch wieder, liebe Freunde. Hoffen wir, dass dieses Jahr für uns alle noch ein paar Momente zu bieten hat, die es wert sind, erlebt zu werden & sich an sie zu erinnern.

Alles Gute, ein schönes Halloween...


... und vielleicht bis bald.

Micha


1 Kommentar:

  1. "Meist erfordern diese Entscheidungen viel Aufmerksamkeit, Fokus und Mut."

    Du hast so Recht.

    Fühl dich gedrückt. <3

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