Sonntag, 25. Oktober 2009

Der Gesang der dicken Frau


Erinnerungen, zusammengehalten vom Staub der Jahre. Das ist es, was bleibt. Mentale Photographien von besseren Zeiten voller Glück und Liebe, die mit jedem Augenblick ein Stückchen mehr ergrauen und verbleichen, ganz wie wir selbst.
Wir klammern uns an ihnen fest und nutzen sie als Baumaterial für unsere Luftschlösser, ohne zu merken, wie sehr das Rad der Zeit sie verzerrt. Wir schaffen uns eine ganz eigene Realität, die nie existiert hat. Wir lernen, zu vergessen und uns selbst zu belügen. Unsere Wunderwaffen gegen die Wahrheit, gegen Kummer und Leid, die drohen, unsere Luftschlösser einzureißen. Und nachts, wenn wir uns unbeobachtet fühlen, wenn die Schatten das Licht verdrängen und rationale und irrationale Ängste sich in unsere Gedanken schleichen, richten wir unseren Blick gen Himmel. Im falen Licht des Schicksalssternes äußern wir still unsere Wünsche. Wir bitten um ein paar Körnchen mehr Zeit in der Sanduhr unseres Lebens. Und um Kraft. Kraft um zu tanzen. Zum Gesang der dicken Frau und zu ihren Liedern über Glück und ewige Liebe.

Und wir tanzen. Oh ja, wir tanzen.

Während die Dämmerung den letzten Tag überkommt, rotten wir uns zusammen, um der aufkommenden Kälte zu trotzen und gemeinsam zu leugnen, dass das Ende naht.
All der Schmutz, den wir im Laufe unseres Daseins in die Atmosphäre geschleudert haben, erfüllt den Abendhimmel mit grotesk schillernden Farben. Wir heben unsere Köpfe und bestaunen dieses Schauspiel, wie eine riesige Leuchtreklame.

["And the people bowed and prayed
to the neon god they made"]

Ja, wir staunen, wir liegen uns in den Armen und wir tanzen, als gäbe es kein morgen. Und diesmal gibt es das auch nicht.
Denn irgendwann ist alles Licht verloschen und jeder einzelne ist wieder allein. Und mit der Dunkelheit kommt die Einsicht; und mit der Einsicht kommt die Reue. Und man bereut. Oh ja, man bereut.
Man bereut all das, was man nicht rückgängig machen kann. All die Zeit, die man verschwendet hat und vor Allem bereut man all die Abschiede, die nie stattgefunden haben, oder viel zu kurz gekommen sind. Dann sind die bedeutendsten Worte die, die man nie gesagt hat und die wichtigsten Küsse die, die man seinen Lieben nie zum Abschied gegeben hat.
Dann, wenn man unter Tränen feststellt, dass man sich an die Gesichter derer, die einem am wichtigsten waren, nicht mehr erinnern kann, wird einem bewusst, dass Liebe, Leidenschaft, Glück und Freude nichts weiter sind, als Worte. Nichts weiter, als Staubkörner auf unseren alten Fotos. Und wieder singt die dicke Frau. Schmettert ihre letzte Arie, während wir einsehen müssen, dass es nichts mehr zu tun, zu hoffen oder zu fühlen gibt.

Dass es nichts mehr gibt. Nur das Ende.

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